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häng' das auf und richte es aus, 2019

 

Ausstellungsansicht
Licht, Holz, Dispersionsfarbe, elektrische Verdrahtung
Kunstverein Grafschaft Bentheim
2019

Häng das auf und richte es aus.

Text: Erich Franz

Eine weiße Wand versperrt den Zugang zum Ausstellungsraum des Kunstvereins Neuenhaus. Nur eine fensterartige Öffnung, rechteckig und wie ein Gemälde gerahmt, gewährt Einblick in eine farbige Lichtwelt. Der Blick trifft auf unterschiedliche Rechtecke, hochformatige und querformatige, in eher dunklen Farbtönen – bläuliche und schwarze Flächen, auch ein sattes Orangerot, und vielfältige rosa und violette Schattierungen, die über die Flächen gleiten.

Die gerahmte Öffnung legt den Standort des Betrachters/der Betrachterin fest. Von hier aus richtet sich der Blick in den unzugänglichen Raum, der von schimmernden Licht-Flächen erfüllt ist. Warum verweigert Yoana Tuzharova das körperliche Hineingehen? Warum erlaubt sie nur dem Blick, einzutreten? Das freie Umhergehen wird eingeschränkt – und eben dadurch ein spezielles Erlebnis des Sehens ermöglicht. Man blickt in den Raum, wie man auf ein Bild sieht, von einem fixierten Standort aus – vor dem Anschauungs-Feld. Die Künstlerin schafft einen Ort der Stille für das sich vertiefende Sehen, einen Ort der Versenkung und des Staunens.

Als Betrachter trete ich an das farbige „Bild“ heran, das von einem weißen Rahmen umschlossen ist, und erkenne in ihm ein Gefüge aus farbigen Partien. Allmählich tieft es sich zu einem Raum ein. Ich sehe ein Ensemble aus farbigen Formen, das nur der Betrachtung dient. Ich blicke in unterschiedliche Tiefen und auf unterschiedliche Flächen, die aus verschiedenen Farbwerten bestehen. Jede erscheint wie gedämpftes Licht, dämmerig schimmernd. Ich richte meinen Blick zu den Seiten nach links und rechts, auch nach oben und unten. Überall schließen sich weitere farbige Partien an. Nirgends finde ich einen Abschluss. Doch erkenne ich auch keine räumliche Hülle, keinen Saal oder Innenraum, der die schwebenden farbigen Flächen in sich enthalten und umschließen würde.

All diese Farben treten nicht gleichzeitig in den Blick. Nein, es ist erstaunlich, wie ruhig der Eindruck bleibt. Unwillkürlich wird meine Aufmerksamkeit von einer der zahlreichen rechteckigen Flächen angezogen, von denen jede eine Farbe enthält, ein Schwarz, ein Blau, ein blasses Lila. Doch diese Farbe, auf die ich gerade blicke, bleibt nicht statisch. Eine andere rechteckige Farbfläche schwebt vor ihr und überlagert sie teilweise, eine weitere, vielleicht etwas dahinter, bildet einen Kontrast. Immer wieder gleitet ein andersfarbiger Schatten, ein Hauch, über die eine und die andere Fläche, oder ein farbiger Lichthof umschließt sie als heller Rand und verschmilzt mit einer weiteren, größeren Fläche.

All diese Eindrücke begegnen einander vollkommen ruhig. Es sind immer nur wenige Partien, auf denen sich der Blick niederlässt. Sie verbinden sich zu einem spezifischen Klang, den man in diesem Moment staunend wahrnimmt. „Staunend“, weil diese Farben, diese Flächen, völlig immateriell wirken, schwerelos und ungreifbar. Sie sind nicht Körper, nicht Oberfläche, sondern: Licht.

Aus wenigen Farb-Partien entsteht dieser Klang – und löst sich wieder auf. Die Aufmerksamkeit gleitet weiter, wird von einer anderen Fläche, einem anderen Klang, einem anderen Aufleuchten und dunklen Versinken angezogen. Es bildet sich keine Mitte, es entsteht kein Fixationspunkt, weder für die Flächen noch für das Gesamte. Die Formen und Farben ergeben keine Komposition, sie verfestigen sich zu keinem Gefüge.

Man kann es kaum glauben, dass die Künstlerin für diese lichthaften und changierenden Farberscheinungen von wenigen festen Grundelementen ausgegangen ist. Sie hat sie in unfixierbare Erscheinungen verwandelt, in ein Entstehen und Sich-Verwandeln. Ein Ausgangselement ist der vorgegebene Raum mit seiner klaren, parallelen Einteilung durch weiße Wandscheiben. Die andere Grundlage ist die Verwendung von lediglich vier Grundfarben: Weiß, Schwarz, Rot und Blau. Aus ihnen entstehen durch Reflexionen und Interdependenzen all die unwahrscheinlichen farbigen Verwandlungen und changierenden Lichtwirkungen. Keines der Ausgangselemente präsentiert sich in klarer Form, weder den Raum noch die Grundfarben. Alles verschiebt sich optisch ineinander und beeinflusst sich gegenseitig. Es entwickeln sich Vorgänge des Werdens, des allmählichen Auseinander-Entstehens, des Sich-Trennens und Verschmelzens. Dass sie dabei dennoch so ruhig bleiben, so meditativ, liegt auch an den konzentrierten Anfangsbedingungen ihrer Interdependenzen. Man bemerkt wohl kaum, dass ein Gelb nicht auftaucht und auch kein Grün, dass jede Form rechteckig ist und alles rechtwinklig zueinander steht. Was ich aber sehe, ist keine Statik und keine Konstruktion, sondern ein Ineinandergleiten und Sich-Bewegen.

Was als Fläche hervortritt, was ich mit meinem Blick aus dem Ensemble als Form und Farbe heraushebe, bleibt körperlos. Jede Fläche wird zum Raum, zu einem Schimmern, einem Strahlen, einer dunklen Tiefe. Die Ränder bleiben ungreifbar, es gibt keine Kanten. Ich stehe dem, was ich sehe, nicht gegenüber. Worauf ich meine Aufmerksamkeit richte, sinkt bald wieder in benachbarte Partien ein. Was hinter den Formen zu liegen scheint, tritt hervor. Ich finde keine Grenzen, keinen Horizont. Auch unter und über meiner Augenhöhe verschränken sich die Farben und Formen, entstehen aus den benachbarten Eindrücken und werden von ihnen beeinflusst.

Es gelingt mir nicht, all diese transitorischen Erfahrungen als Formen festzulegen, und auch nicht, sie als Objekte in den Raum zu stellen. Sie bleiben meine Erfahrungen, meine Seh-Vorgänge, mein nicht zu beendendes Suchen und flüchtig bleibendes Finden, meine Erfahrung des dunkelnden Lichts und der körperlosen Form. Jede Farbe, jede Form, jede Begegnung unterscheidet sich von den anderen, sie wirken tatsächlich sehr unterschiedlich. Und jede Seh-Erfahrung wird auch zu einem Gefühl: das stille Hervortreten, das In-die-Tiefe-Sinken, das Sich Berühren und sanfte Kontrastieren. Nichts, was ich sehe, verfestigt sich zu objektiver Identität.

Man wird mit dem Sehen nicht fertig. Das erfahren wir bei jedem Bild, das uns als Kunstwerk in seinen Bann schlägt: Man erlebt das Faszinosum eines unabschließbaren Schauens. Yoana Tuzharova hat es in den Raum ausgeweitet.

Das Betrachten eines Gemäldes unterscheidet sich grundsätzlich vom alltäglichen Sehen. Der Wahrnehmungsforscher Günther Kebeck hat einige Unterschiede folgendermaßen zusammengefasst: „Idealerweise befindet sich der Betrachter mittig vor dem Bild, hat einen festen Abstand zur Bildebene und einen Betrachtungswinkel von annähernd 90°. Bild und Betrachter stehen sich unmittelbar gegenüber. Die an sich einfache und übersichtliche Konstellation ist für unsere Wahrnehmung eine ungünstige Ausgangssituation. Aus Sicht der Wahrnehmungsforschung ist ein Bild eine unterbestimmte oder verarmte Stimulation. Sind Bild und Betrachter unbewegt, dann entfallen alle Bewegungshinweise. Die Konsequenzen für das Problem der Eindeutigkeit [des Ziels unseres alltäglichen Sehens] sind weitreichend. Bewegungen von Objekten im Gesichtsfeld führen in der Umgebungswahrnehmung abwechselnd zu einer Verdeckung und Freilegung anderer Objekte. Dieser systematische Wechsel erleichtert die Objektidentifikation und die Bestimmung von Entfernungsverhältnissen. Die Bewegung des Beobachters in einer Umgebung führt dazu, dass auf der Netzhaut nahe Objekte stärker verschoben werden als weit entfernte (Bewegungsparallaxe). […] Die Ambiguitäten des Bildes hingegen lassen sich auf diesem Weg nicht auflösen. Hierzu müsste der Betrachter Ausschnitt und Perspektive selbst bestimmen können. Die Bildwahrnehmung stellt zwar geringere Anforderungen an den Aufbau einer stabilen Welt, doch höhere Ansprüche an die interpretatorische Erzielung von Eindeutigkeit. Letztlich ist Eindeutigkeit bei der Bildwahrnehmung trotz Anwendung der Gruppierungs- und Gliederungsheuristiken nicht zu erreichen.“1

Mit genauem Gespür hat Yoana Tuzharova dem Betrachter die alltäglichen Hilfsmittel zur optischen Orientierung entzogen und unauflösbare Ambiguitäten erzeugt. Damit hat sie den gewohnten Zugriff des Sehens auf die sichtbare Welt verlangsamt, behindert und letztlich aufgehoben. Was sie damit erreichte, ist einerseits ein Verlust: Die gewohnte und alltägliche Orientierung wird uns unmöglich. Andererseits ist es aber ein vielfacher Gewinn: Wir erleben in den Prozessen unseres Sehens etwas Unabschließbares, Steigerungen, Intensitäten, Verwandlungen, Aktivität, Öffnen von Grenzen, sogar Gefühle. Was wir sehen, entsteht immer neu. Es steht nicht vor uns, es entsteht in uns.

 

1 Günther Kebeck, Andreas Karl Schulze, Übersummativität, Köln 2019, S. 20 f.

 

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